Entführung

Nichts sehen, nicht sprechen, nicht frei bewegen können, nicht bewegen dürfen – Geiselnahme. Die ultimative Demonstration der eigenen Machtlosigkeit. Muffiger Geruch, laute Musik, schwitzende Geiseln und Entführer. Ausweglosigkeit, kein bestimmtes Handeln, kein Geld, nichts wird gefordert außer nichts sehen, nicht sprechen, nicht bewegen.

Es dauert nur 20 Sekunden. Zwei Männer – einer mit Kalaschnikow, der andere mit Panzerfaust – springen auf die Straße. Der Bus stoppt. Die Vermummten fokussieren das Fahrzeug, der Fahrer öffnet die Tür. Aus dem Unterholz spurten sechs weitere Vermummte los, in den Spur. Schreie. “Heads down”, “Hands in the neck”, “Close your eyes”, “Don’t talk”, “Shut up”. Die Tür geht wieder zu. Der Bus fährt weiter, bloß das Fahrziel geben jetzt andere vor. 20 Sekunden hat es gedauert, bis die Entführer einen kompletten Reisebus mit mehr als 20 Insassen in ihre Gewalt gebracht hatten.

Während der Fahrt versuche ich, mir die Richtung zu merken. Sollten wir wider Erwarten frei kommen oder eine Flucht gelingen, soll die Richtung klar sein, in die wir zurück laufen müssen. Einige Minuten geht das gut. Mal Schotter-, mal Asphaltpiste, leichte Linksbiegungen, keine scharfe Kurve. Stopp. Männer steigen ein, setzen uns blickdichte Brillen auf, fesseln die Hände auf den Rücken. Der Bus fährt wieder an. Im Kreis – eine volle Drehung wohl auf einem großen Platz und weiter im Kreis, schert dann nach rechts aus. Um wie viel Grad haben wir uns nun gedreht? Ich weiß es nicht, ich kann den Weg nicht mehr zurück verfolgen.

Eine schätzte Viertelstunde fährt der Bus, bergauf, bergab, Kurven, meist auf Asphalt, zweiweise sogar etwas schneller. Dann heißt es aussteigen. Wir werden auf eine Wiese gebracht. Von rechts schallt laute Musik. Klingt wie Didgeridoo, aber mehrere Tonspuren leicht versetzt übereinander gelegt – mongolische Kehlkopfmusik, wird man uns später erklären. Nervig, vor allem in dieser Lautstärke und als Endlosschleife gespielt.

Knien auf der Wiese, die Hände auf den Schultern des Vordermanns. Naja, wenigstens nicht allein. Abgeführt, alle Wertsachen aus den Taschen genommen, wieder zurück auf die Wiese. Minuten vergehen, dann werden wir einzeln in einen Verschlag geführt, genau dorthin, wo die laute Kehlkopfmusik läuft.

Nun beginnt die Monotonie. Kehlkopfmusik-Titel 1, Kehlkopfmusik-Titel 2, Kehlkopfmusik-Titel 1, Kehlkopfmusik-Titel 2 und so weiter. Eine Ewigkeit und de facto – wie wir später erfahren – stundenlang. Mal hinknien, mal unbequem ohne Möglichkeit, sich anzulehnen, sitzen, mal stehen. Die größte Abwechslung ist ein Ausgang. Rechts und links werde ich von einem der Entführer gepackt und aus der Hütte gezogen. Es beginnt ein aberwitziger Weg. Erst im Kreis, dann wird die Hütte einmal umrundet, dann geht es etwas weiter weg und wieder zurück.

Die Kehlkopfmusik dient bei verbundenen Augen als Orientierung, sie ist mal lauter, mal leiser, mal von links, mal von rechts zu hören. Ein zweiter Ausgang endet an einer Station, wo ich mit einem Esslöffel Sand in Cola-Flaschen schaufeln soll. Sinnlos, aber wenigstens an der frischen Luft. Die Sonne brennt. Ich schwitze. Vor allem unter der blickdichten Brille. Wenn ich in die Augen offen halte, rinnen Schweißtropfen ins Augen und brennen unangenehm.

Dann ein Verhör. Ich werde in einen anderen Schuppen gebracht. Die Brille wird abgenommen, geblendet von einem 500-Watt-Strahler soll ich einen Brief lesen und unterschreiben, der die Uno-Truppen der Greueltaten an einheimischen Frauen bezichtigt, die Mission für gescheitert erklärt und mehr Waffen für die Entführer fordert. Alles blanker Unsinn, ich unterschreibe trotzdem. Vor allem, weil von mir kein konkretes Handeln verlangt wird. Anders als bei den Guerillas am Vortag soll ich keine utopische Summe abliefern, keine Dienste erbringen, keinen meiner Begleiter opfern. Ich unterschreibe aber auch, weil der verhörende Entführer mich minutenlang in Sit-Up-Stellung an der Wand hocken lässt, nachdem ich die Südarmee nicht verdammt habe. Er ist aus dem Norden, doch woher sollte ich das wissen? Mehrfach werden Waffen entsichert, er will, dass ich meinen Namen buchstabiere, will meine Heimattelefonnummer (gut, kann ich ändern), meine Postleitzahl (warum?) und und und

Dann erklärt er mich zu seinem Hauptansprechpartner und Anführer der Geiselgruppe. Später erfahre ich, das hat er jedem von uns gesagt. Der Rest der Entführung: Sitzen, knien, stehen, Kehlkopfmusik, Im-Kreis-laufen. Dann die Pfiff vom leitenden Major. Übung zuende. Nach vier Stunden werden die Brillen abgenommen.

Was im Kopf doch für Phantasien ablaufen. Ich habe mir das Entführercamp ganz anders vorgestellt. Blockhütten im Wald gingen mir durch den Kopf – vor allem wegen der krummen Eingangsstufen. Stattdessen stehen wir auf einem Fußballfeld und wurden in einem Geräteschuppen am Rand festgehalten. Und die Lage: Ich hatte zeitweise Schussgeräusche vom Schießübungsplatz gehört und eine gewisse Lage meines Gefängnisses vermutet. Damit lag ich nicht völlig falsch, aber auch nicht richtig. Tatsächlich waren wir auf Umwegen fast wieder zur Unterkunft gebracht worden. Das “Gefängnis” war das Nachbargrundstück der Kaserne.

Hilflosigkeit, Orientierungslosigkeit, Leere – während der vier Stunden hatte ich versucht abzuschalten, habe mir im Kopf Denk-, Zähl- und Rechenaufgaben gestellt, um nicht ewig die auf Dauer ernervierende Musik zu hören. Ich hätte so noch Stunden oder Tage sitzen bleiben können. Die Entführung empfand ich nicht als brutal. Gewalt in anderer Form: Ich musste erfahren, dass ich nichts tun kann, keine Befehle befolgen, einfach nichts, das dafür umso länger. Ich mag mir nicht vorstellen, wie es Geiseln ergeht, die diese Erfahrung nicht bloß vier Stunden, sondern wochen- oder monatelang machen müssen. Einfach dasitzen, ohne zu wissen, was als nächstes kommt, aber mit der Vorahnung, dass wirklich gar nichts Neues passiert, wie schon in der Stunden zuvor. Geiselnahme: Eine besonders perfide Entwertung des Menschen, dem vorgeführt wird, dass es Situationen gibt, in denen keiner der eigenen Sinne hilft. Nur Ruhe bewahren und abwarten, ganz lange abwarten.

Alle Folgen:

Folge 1: Kleines Kriegs-Tagebuch
Folge 2: Hammelburg
Folge 3: Eingerückt
Folge 4: Ein Schuss und eine Granate
Folge 5: Nord gegen Süd
Folge 6: Betreten
Folge 7: Auftrag und Bearbeitung
Folge 8: Im Gefecht
Folge 9: Gewehrmündung im Gesicht
Folge 10: Auftrag und Ideologie
Folge 11: Entführung
Folge 12: Aus Schaden wird man klug

Dieser Beitrag ist zuerst im Blog Vanity Care erschienen.

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