Reisende kennen keine Grenzen mehr

F.A.Z. vom 10. November 2014 Die neue Reisefreiheit kannte zwei Richtungen. Als vor 25 Jahren Mauern fielen und Schlagbäume sich hoben, schwärmten die Bürger der DDR aus. Nach der Wiedervereinigung entdeckten sie Strände fern von Hiddensee und Warnemünde – in Rimini, Palma de Mallorca und Antalya. In die Gegenrichtung strömen seitdem Jahr für Jahr mehr Urlauber und Geschäftsleute. Der Mauerfall löste einen anhaltenden Boom aus.

„Der Fall der Mauer war einer der denkwürdigsten Augenblicke der deutschen Geschichte – und die Wiedervereinigung war der größte Gewinn für den Deutschland-Tourismus“, sagt Petra Hedorfer. Hedorfer ist die Chefin der Deutschen Zentrale für Tourismus (DZT). Ihre Aufgabe ist es, in aller Welt für das Reiseland Deutschland zu werben. Für Schloss Neuschwanstein und den Burgenrhein, für das Wattenmeer und Technikschauen wie die Autostadt Wolfsburg – seit 1990 auch für die Dresdner Frauenkirche, Dessauer Bauhauskultur und Szene-Kult aus Berlin-Mitte. „Mit der Wiedervereinigung haben wir ein Füllhorn an Angeboten und Ereignissen, die Reiseanlass sein können, dazubekommen“, sagt Hedorfer. Eine gesamtdeutsche Reisestatistik gibt es seit 1992. „Seitdem hat sich die Zahl der Gäste aus dem Ausland verdoppelt“, berichtet sie.

Damals verbrachten 14 Millionen ausländische Besucher knapp 35 Millionen Nächte in Deutschland, 2013 waren es 31 Millionen, die 72 Millionen Mal in deutschen Herbergen nächtigten. Tendenz weiter steigend. „Bis zum Jahr 2020 erwarten wir nahezu zehn Millionen weitere Übernachtungen“, prognostiziert Hedorfer.

Aber auch die Bundesbürger blieben ihrer Heimat treu. Sie buchten 2013 rund 340 Millionen Übernachtungen im Inland – ein Viertel mehr als unmittelbar nach dem Mauerfall. Die Umsätze der Hotels und Herbergen mit insgesamt fast 500 000 Beschäftigten stiegen auf mehr als 24 Milliarden Euro – um ein Sechstel in zehn Jahren. Die ganze Tourismusbranche hat von der Wiedervereinigung profitiert. Doch es gibt zwei Hauptgewinner.

Weiße Villen am Strand statt Betonburgen – dafür steht der Einheitssieger bei heimischen Urlaubern. Renovierte Traditionsbäder von Heiligendamm bis Heringsdorf ließen Denkmäler des Siebziger-Jahre-Tourismus auf Fehmarn und am Weißenhäuser Strand alt aussehen. „Der größte Gewinner unter den innerdeutschen Reisezielen ist Mecklenburg-Vorpommern, das bei den Ostdeutschen das beliebteste Urlaubsland ist und auch in Westdeutschland mittlerweile auf Platz vier rangiert“, sagt Ulf Sonntag von der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen, die Ferienvorlieben der Deutschen erfragt. Die Forscher zählen nur Haupturlaube mit fünf oder mehr Nächten – bundesweit liegt das Küstenland dann knapp hinter Bayern.

Adlon statt Palast-Hotel – in Berlin, dem Einheitsgewinner im Werben um ausländische Gäste, konzentriert sich die Hotellerie im Ostteil der Stadt heute wieder darauf, traditionsreichen Glanz zu rekonstruieren. Vor dem Mauerfall waren die Herbergen darauf bedacht, Weltoffenheit vorzugeben. Der Ost-Berlin-Aufenthalt war ein exklusives Geschäft: Das Reisebüro der DDR vermittelte jährlich bloß 1,1 Millionen Reisen in das gesamte Land. Und wer ankam, residierte unter besonderen Umständen. Das Palast-Hotel, sozialistische Vorzeigeherberge mit braunen Spiegelglasfenstern wie der damals noch gegenüberstehende Palast der Republik, war Hotel und Devisensammler. Gezahlt wurde mit D-Mark – auch spätabends in der hauseigenen Sinus-Bar, wo auch Stasi-Chef Erich Mielke feierte und Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski verhandelte.

Gäste aus den sozialistischen Bruderländern kamen dagegen im Interhotel Stadt Berlin am Alexanderplatz unter – mit 1000 Zimmern auf 37 Etagen einst gebaut, um die Hälfte der Ost-Berlin-Urlauber aufzunehmen. Nun heißt das Hochhaus Park-Inn, das Palast-Hotel musste dem „Aquaree“ mit Museum und Radisson-Hotel weichen, drumherum sprießen weitere Domizile. „Der Aufschwung des Deutschland-Tourismus hat viel mit der Strahlkraft der Hauptstadt zu tun, wo sich die Übernachtungszahlen versechsfacht haben“, sagt Hedorfer. 11,5 Millionen Übernachtungen von Ausländern wurden 2013 gezählt – 1,2 Millionen von Briten, und mehr als 800 000 von Italienern und Amerikanern.

Doch auch Dresden, Weimar und die Wartburg werden wieder entdeckt. „Die Übernachtungszahlen in allen Ländern sind gewachsen, in den neuen Bundesländern war das Wachstum durchweg überdurchschnittlich“, erklärt die DZT-Chefin. Das Saarland – nach absoluten Zahlen Schlusslicht bei Auslandsgästen – zählt heute doppelt so viele Übernachtungen wie vor zwei Jahrzehnten, in Sachsen hat sich die Zahl mehr als verdreifacht, in Mecklenburg-Vorpommern vervierfacht.

Über allem thront Berlin. Doch trotz aller Zuwächse zieht die Stadt erst 16 Prozent aller ausländischen Übernachtungsgäste an. „In manchem anderen Land entfallen mehr als 50 Prozent dieser Übernachtungen auf die Hauptstadt“, sagt Hedorfer. Statistisch gesehen, hat in Deutschland 25 Jahre nach dem Mauerfall kein zusätzlicher Gast im Osten einem Hotel im Westen Kunden abgenommen – weil insgesamt mehr Gäste kamen und weil überall im Land in Tourismus und Infrastruktur investiert wurde.

Völlig weggewischt ist die innerdeutsche Grenze indes nicht von den Landkarten der Bundesbürger. „Ostdeutsche blieben im Urlaub tendenziell häufiger in Ostdeutschland, Westdeutsche in Westdeutschland“, sagt Reiseforscher Sonntag. Zwei Drittel aller Ferienreisen führen ins Ausland, doch wer im Inland urlaubt, überquert selten die ehemalige Trennlinie. 14,5 Prozent der Haupturlaube, die in Ostdeutschland beginnen, haben ein westdeutsches Ziel. In die Gegenrichtung sind es 6,8 Prozent. „Das ist vor allem auf Gewohnheiten und geographische Nähe zurückzuführen, nicht auf Ressentiments“, beruhigt Sonntag. Von Eisenhüttenstadt geht es halt schneller nach Usedom als zum Schiff nach Borkum, von Gelsenkirchen ist es umgekehrt.

Ansonsten dominiert die Einheit. „Wenn Deutsche für ihre Urlaubsreisen die ehemalige Grenze überqueren, dann unterscheiden sie sich nicht in ihrem Urlaubsverhalten“, erklärt der Reiseforscher. Aus dem Westen geht es dann bevorzugt zum Top-Ziel der Ostdeutschen, nach Mecklenburg-Vorpommern. Und die Nummer eins in der westdeutschen Beliebtheitsliste, steht im Osten auf Rang zwei. Sonntag schließt: „Es gibt eine starke Tendenz, sich für den Urlaub zwischen Bergen oder Meer zu entscheiden.“

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