Das haut die Hühner von der Stange

F.A.Z. vom 16. Februar 2015 Wenn die letzten Klausuren des Wintersemesters geschrieben sind, landet in deutschen Studentenwohnungen wieder der Bruchpilot. Nicht weil die Lernenden so desaströse Antworten zu Papier gebracht haben, sondern weil ein obskures Zeitgeistphänomen durch die Studentenbuden fliegt. Ein Kinderspiel hat sich zu einem Stimmungsmacher in Unistädten entwickelt.

„Looping Louie“ heißt es und stammt vom amerikanischen Spielekonzern Hasbro. Altersempfehlung ab vier Jahre – für die Originalvariante, aber garantiert nicht für die inoffizielle Studentenversion. Denn je näher man deutschen Universitäten kommt, desto mehr werden alkoholische Flüssigkeiten zur Zutat für den Spielspaß.

Die Spielvorrichtung erinnert mehr an ein gemächlich drehendes Kirmeskarussell statt an einen Quell krachender Unterhaltung. Zentral sind die Figur des Bruchpiloten Louie und die Reaktionen der Mitspieler. Louie dreht in einer Gondel um den Karussellmast zuverlässig und batteriegetrieben seine Runden. Die Reaktionsschnelligkeit der Studenten dürfte weniger zuverlässig sein, je länger der Spieleabend und je ausgelassener die Feier wird.

Doch gerade darin besteht in deutschen Univierteln offenbar das Vergnügen. Jeder Mitspieler sitzt vor einem Gestell, in das er Münzen mit Hühnchenbildern steckt. Und während Plastik-Louie im Kreis fliegt, schubst er diese Münzen runter – man könnte sagen: Er haut die Hühner von der Stange. Um das zu verhindern, hat jeder Spieler einen Katapulthebel, um die Figur hochzustoßen. Wer Louie zu spät katapultiert, verliert ein Hühnchen. Und wer seine Vögel nicht mehr beisammenhat, hat verloren.

Der Fanklub scheint riesig – mancher Spieler billigt dem Kinderspiel beinahe religiösen Wert zu: „Am achten Tag schuf Gott Looping Louie“ schrieb ein Käufer in seine Produktbewertung, die er in der Kommentarspalte des Online-Händlers Amazon hinterließ. Dort rühmen Käufer nicht nur die „unglaublich unterhaltsamen Abende“ mit dem Spiel, sie berichten auch von „Folgeschäden am nächsten Morgen“. Und die rühren wohl nicht von starkem Fingerkuppenjucken nach häufigem Louie-Katapultieren, sondern vom spielbegleitenden Getränkegenuss von Hochprozentigem.

Begonnen hatte der Siegesflug des Bruchpiloten dagegen harmlos und bescheiden. Hasbro brachte das Spiel vor mehr als zwei Jahrzehnten auf den Markt. 1994 zeichnete die Fachleute-Jury für das Spiel-des-Jahres-Siegel das Produkt mit dem Kinderspiel-Sonderpreis aus – ein Zeichen für pädagogischen Wert, fachlich geprüftes Spielvergnügen und ebenso für steigende Verkaufszahlen. Das Spiel gelangte in die Kinderzimmer, in denen die Hühnerjäger von heute erste Bekanntschaft mit Louie machten. Zwischenzeitlich sank der Stern des Bruchpiloten. Hasbro nahm „Looping Louie“ kurzzeitig aus dem Sortiment. Doch seit einigen Jahren ist Bruder Louie zurück. Unverändert, aber erfolgreicher als je zuvor.

Unverändert – das gilt für die Version, die Hasbro ausliefert. In Wohngemeinschaften und in Party-Runden sind die Spielregeln um einen ungeschriebenen Satz verlängert worden: „Mein Hühnchen bleibt auf der Stange, trinken musst du.“ Wer verliert, bekommt ein volles Glas – ein rein deutsches Phänomen. In den meisten anderen Ländern der Welt ist Louie zu keinem zweiten Höhenflug aufgebrochen. Belustigt bis irritiert blickte schon das „Wall Street Journal“ auf deutschen Studentenrunden, um dem Rest der Welt zu beschreiben, mit welchem in die Jahre gekommenen Produkt der Hasbro-Konzern in der Bundesrepublik Jahr für Jahr Millionen umsetzt – obwohl ein Exemplar des Spiels schon für etwa 15 Euro zu bekommen ist.

In der Liste der meistverkauften Spielwaren des Online-Kaufhauses Amazon rangiert „Looping Louie“ hierzulande aktuell mal wieder auf Platz eins. Aus dem Katalog der 100 begehrtesten Spielzeugartikel ist der Pilot seit Jahren nicht mehr herausgestürzt. Innovationen braucht dieses Produkt nicht. Es verkauft sich in der Ursprungsversion besser als die jüngste Monopoly-Edition, die ebenfalls im Hasbro-Sortiment auf der Siegerseite steht. Auf einem Markt, auf dem von manchem Brettspiel nur mit Mühe 10 000 Packungen abgesetzt werden, schafft Hasbros Hühnchenjagd Jahr für Jahr Werte von mehr als 200 000 Stück, die in Kinder- und halt auch Erwachsenenhände gelangen.

Dem sechstgrößten Spielzeuganbieter hierzulande, für dessen Produkte in der Bundesrepublik jährlich rund 150 Millionen Euro ausgegeben werden, ist der Erfolg von Louie etwas unangenehm. Man rücke diese Entwicklung in der eigenen Kommunikation nicht nach vorn, heißt es. Dass „Looping Louie“ 2014 Deutschlands bestverkauftes Produkt in der Kategorie Kinderspiele war, wird aber freudig registriert. Der pädagogische Wert des Spiels sei unbestritten, Kinder lernten Feinmotorik und schnelles Reagieren. Über aktuelle Kinderzimmertrends sagen die Verkaufszahlen gleichwohl wenig aus.

Für den Spielwarenhandel ist das Spiel dennoch ein Segen. Wenn eine Bestellung aus dem Internet nicht mehr rechtzeitig zur Feier geliefert werden kann, stehen Kunden, die sonst nie das Fachgeschäft betreten, dort an der Kasse. Der Absatz floriert wie die Ideenbörse für Basteleien, die die Hühnerjagd erschweren. Für den simpelsten Umbau, über den sich Louie-Fans online austauschen, bekommt die Pilotenfigur einen Helm montiert. Der Schraubverschluss der als Zubehör gewählten Getränkeflasche sei gut geeignet, Louie werde schwerer und sei nicht so leicht hochzukatapultieren.

Andere Varianten setzen auf leistungsstärkere Batterien, die Louie auf schnellere Flugrunden schicken. Tüftler haben gar den Originalantrieb ausgebaut und durch Steuereinheiten mit Temporegler und Richtungswechsler ersetzt. Bis zu 80 Euro verlangen sie im Internet für ihre Eigenkreationen. Hasbro sagt zu all diesen Varianten nichts: In die Kinderspielanleitung gelangen sie nie, in manche Studentenwohnung schon.

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