Von Spielverderbern und Spaßmachern

F.A.Z. vom 11. April 2015. Seit 1996 kümmert sich Michael Raum um Rutschautos und Spielküchen, vorher um das Drehmoment von Lippenstiften.

Die Spezialscheinwerfer auf den Kotflügeln waren eine besondere Herausforderung. Dabei sollten sie bloß aus Plastik sein, niemals leuchten und nur eine Sonderedition des Kleinkind-Rutschautos Bobby-Car schmücken. Michael Raum befand schließlich: „Geht nicht, produktionstechnisch nicht möglich.“ In der Spielwarenbranche sind die Ingenieure halt manchmal die Spielverderber. In der Bobby-Car-Fabrik im fränkischen Burghaslach fiel Raum diese Rolle zu. Er ist Produktionschef für die Werke der Simba-Dickie-Gruppe mit Hauptsitz in Fürth und somit für die Rutschautos, Kindertraktoren, und Spielküchen im Sortiment der Gruppe zuständig.

Spielverderber sein, bevor das Spiel überhaupt begonnen hat – diese Rolle gefällt Raum natürlich nicht. Deshalb sieht er seine Aufgabe auch darin, so lange zu tüfteln, bis sich eine Finesse doch bruchsicher produzieren lässt. Der Ingenieur wird dann zum Spaßmacher. „Größere Radien und mehr Breite, damit das Kunststoffmaterial besser in die Form hineinfließen kann“, lautete sein Ausweg, damit die Bobby-Car-Edition doch Extra-Scheinwerfer bekommen konnte.

Auch wenn Kindergartenkinder weit davon entfernt sind, einen Führerschein zu erwerben, ihre Gefährte sollen schon den großen Vorbildern ähneln. Anders als eine Küchenmaschine oder ein Schlagbohrer sollen Spielwaren nicht nur ihren Zweck erfüllen, ihre sehr jungen Nutzer haben schon hohe Ansprüche an die Gestaltung. Und Spielzeug-Ingenieuren wie Raum fällt die Aufgabe zu, gewünschtes Design, geforderte Sicherheit und technische Notwendigkeiten in Einklang zu bringen.

Die Karosserie des Bobby-Cars wird aus einer Kunststoffmasse geformt, die mit Druckluft an die Innenwände einer Hohlform geblasen wird. „Zuerst geht es immer um die Frage, ob ein Hohlkörper in einer bestimmten Form überhaupt produzierbar ist“, erklärt Raum. Und dabei gilt als Faustregel: Je spitzer und höher eine Ausbuchtung sein soll, desto schwieriger lässt sie sich gestalten. Raum veranschaulicht das mit einem Beispiel: „Wenn man einen Ball unter einen ausgerollten Plätzchenteig legt und den Teig an allen Seiten wieder auf die Arbeitsplatte drückt, wird er über dem Ball immer dünner und droht zu reißen.“ Der Ingenieur kalkuliert, wie groß der gedachte Ball sein darf, damit der Teig nicht reißt oder bricht – und ob die Ausbuchtung statt kugelig auch eierförmig oder pyramidenartig sein darf. „Ecken und Kanten sind im Blasverfahren aber schwierig zu gestalten“, gibt Raum zu bedenken. Ein Bobby-Car hat deshalb fast nur Rundungen.

„Es kommt immer wieder vor, dass sich eine Form nicht auf Anhieb herstellen lässt“, sagt Raum. Beispiele finden sich zuhauf, nicht nur in der Bobby-Car-Fertigung, sondern bei fast allen Spielzeugherstellern. Sollte der Formel-1-Wagen auf der Carrera-Bahn bis ins Detail genauso aussehen wie der Bolide von Sebastian Vettel, müsste die Halterung der Außenspiegel dünner als eine Stecknadel ausfallen. Der erste Unfall würde dem Wagen eine lebenslange Bruchstelle zufügen. Eine dickere Verbindung musste her, ohne den Eindruck zu zerstören, dass eine Miniatur des Profi-Autos über den Rundkurs saust.

Herstellern wie Lego oder Playmobil setzt zudem das genutzte Spritzgussverfahren technische Grenzen. Flüssiger erhitzter Kunststoff muss dabei in eine Form fließen, in Sekundenschnelle härten und schließlich nach unten aus der Form fallen. Extravagante Wölbungen würden wie Widerhaken wirken und die Einzelteile in der Gussform halten. Die Ingenieurskunst besteht dann darin, das Modell schon im Entwurf in eine überschaubare Zahl von Einzelteilen zu zerlegen, die sich gießen und stabil zusammensetzen lassen. Der Ingenieur schlüpft dann in die Rolle eines Schlichters im Widerstreit zwischen Designern und Technikern.

Solche Tüfteleien sind nach dem Geschmack von Simba-Dickie-Manager Raum. „Die Spielwarenwelt ist ein Eldorado für Ingenieure“, sagt er überzeugt. Gleichwohl sind die Spielzeugfachleute unter den Ingenieuren eher eine Randgruppe. Der Spielwarenherstellerverband DVSI zählt für Unternehmen in der Bundesrepublik 11 000 Beschäftigte – darunter jede Menge Kreative, Kaufleute, Marketing-Fachleute und Handwerker. Ingenieure sind in der Minderheit. Bei weitem nicht jeder Betrieb in der Branche, die durch Klein- und Familienunternehmen geprägt ist, geht auf einen Ingenieur zurück. Ernst Bettag, der Gründer des Bobby-Car-Herstellers BIG, war Ingenieur. Michael Sieber, der Chef der Simba-Dickie-Gruppe, die das Unternehmen nach Bettags Tod übernahm, hat ein wirtschaftswissenschaftliches Studium absolviert. Ohnehin gibt es keine Ausbildung zum Spielzeug-Ingenieur, zu unterschiedlich sind die Anforderungen für verschiedene Kinderzimmerprodukte, die aus Plastik, Holz, Metall oder Stoff sind.

Raum studierte Maschinenbau mit dem Spezialgebiet Fertigungstechnik. Bevor er 1996 zu Bobby-Car, Smoby-Spielküchen und Dickie-Modellautos kam, kümmerte er sich um Lippenstifte. Ihn interessierten weniger Trendfarben, die Frauen nach dem Willen von Dior, Givenchy oder Estée Lauder um ihre Münder auftragen sollten. Raum widmete sich dem Drehmoment eines Lippenstifts. Denn was nützt das schönste Rot, wenn sich das Innere eines Lippenstifts nicht ohne Klemmen und Ruckeln aus der Hülle holen lässt.

Den Wechsel von Damen- zu Kinderprodukten erklärt er mit seinem Lebenszyklus. „Als unverheirateter junger Mann war es toll, Frauen die neusten Lippenstifte zeigen zu können“, sagt er. Nach seiner Heirat und der Geburt seiner Kinder habe er im Privaten mit Spielwaren mehr beeindrucken können. So charmant diese Erklärung klingt, Raum brachte die Lust am Tüfteln zum Branchenwechsel. Denn Lippenstifte sind im Innersten eher Standardprodukte. Bei Spielzeug ist der Konstrukteur mehr gefragt.

Die Produkte für das Kinderzimmer müssen nicht nur gut aussehen. Spielzeug soll nicht nur Kindern gefallen, es soll ihnen auf keinen Fall schaden. Den Ingenieuren in den Entwicklungsabteilungen der Hersteller stehen allein in Deutschland mittlerweile rund 200 Ingenieure in Testlaboren gegenüber, die Puppen, Rennwagen und Schaukelpferde vor der Zulassung auf ihre Sicherheit prüfen. Das Knopfauge eine Kuscheltieres muss so fest verankert sein, dass es nicht herausreißt, wenn ein Kind daran zerrt. Die Masten eines Modellsegelschiffs haben ein plattes Ende bekommen, damit sie nicht mehr schmerzhaft pieken. Bei Playmobil ist der Mast gar seit vielen Jahren nicht mehr starr wie die Arme des Piratenmännchens, sondern aus einem flexiblen Kunststoff.

„Produktsicherheit geht immer vor. Es darf nichts produziert werden, was nicht höchsten Sicherheitsanforderungen genügt“, sagt Raum. Manche Eltern dürften daher schon den Kraftakt absolviert haben, ein zusammengestecktes Bobby-Car wieder auseinanderzunehmen. „Wir haben eine an sich unlösbare Verbindung konstruiert, damit ein Rad nicht während der Fahrt abfallen kann“, sagt Raum.

Der Ingenieur übt aus seiner Sicht „den Königsberuf in der Spielwarenbranche“ aus. Doch technisches Wissen allein genüge nicht, der Tüftler dürfe nie die Wirtschaftlichkeit aus dem Blick verlieren. Auch dafür gibt es eine Faustregel: Ein Spielzeug ist umso effizienter für einen Hersteller, je mehr Teile aus demselben Werkstoff gefertigt sind. Für die Konstruktion heißt das: „Teile sollen auch ohne Schrauben halten“, erklärt Raum. Steck- und Klickverbindungen sind ihm lieber als Schraubgewinde. Er nennt das „montagegerechtes Konstruieren“.

Kunststoffverarbeiter achten zudem darauf, aus möglichst wenig Material möglichst stabile Bauteile herzustellen – für die Statik sorgen Streben an den Innenseiten der Hohlkörper. Und allzu viel Raum für Experimente bleibt nicht. Denn das Bauen der Werkzeuge, mit denen Kunststoff in Form gebracht wird, zählt zu den teuersten Arbeitsschritten. Deshalb sind Hersteller erpicht, vorhandene Formen abermals zu verwenden. Am deutlichsten wird das bei Lego: Der Konzern hält seine Entwickler an, immer neue Bausätze mit vorhandenen Bausteingrößen zu bilden. Der Ingenieur wird dann zum Puzzlespieler. Nicht jeder Ingenieur sei für das Spielen geeignet, gibt Raum zu bedenken. Die Bereitschaft zum kreativen und unkonventionellen Denken über die Grenzen einer Teilaufgabe hinweg sei nötig. „Wer sagt, dass er nur Lenkräder konstruieren wolle, der wird nur Lenkräder konstruieren“, sagt Raum. Er selbst baut lieber auch das Auto dazu mit.

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