Von Grenzen, die Freibriefe sind

Was haben der Gesundheitsfonds und der Rundfunkänderungsstaatsvertrag gemeinsam? Niemand kann erklären, weshalb die gefundene Entscheidung gut und richtig ist. Beide sind je ein kompliziertes Etwas, das bald nach Inkrafttreten neue Reformen erfordern wird. Soweit muss es bei den Paragraphen, die regeln sollen, was ARD und ZDF künftig im Internet dürfen, nicht kommen. Der Rundfunk-Staatsvertrag ließe sich noch stoppen – von jeden der 16 Landesparlamente.

Es ist eine Entscheidung, aus der jeder das herauslesen kann, was er möchte. Die Regierungschefs der Länder haben in Dresden entschieden, dass ARD und ZDF künftig alle möglichen TV-Sendungen ins Netz stellen dürfen – und dazu alle möglichen irgendwie passenden Internet-Seiten. Doch nur für kurze Zeit. Sieben Tage nach der Ausstrahlung einer Sendung müssen ARD und ZDF alles, womit sie das Web dazu vollgestopft haben, wieder aus dem öffentlich zugänglichen Netz tilgen. Dieser Löschzwang entfällt aber, wenn Videos von Sendungen und begleitende Textseiten in so genannten Telemedienkonzepten vorgesehen sind und in einem Verfahren – dem Drei-Stufen-Test – geprüft worden sind.

Das ist so konfus wie die Sprachblüten der Sächsischen Staatskanzlei dazu verschwurbelt sind. Die Länder hätten ihren “medienpolitischen Gestaltungswillen … in tragfähige Ergebnisse gegossen”, teilt die Staatskanzlei im Namen aller Ministerpräsidenten mit. Die 16 Regierungschefs hätten „einen wesentlichen Baustein in der Modernisierung der Medienordnung gesetzt.“ Der sitzt aber alles andere als fest. Eigentlich ist er ein greller Spielzeug-Holzbauklotz, der auf eine Mauer gelegt wurde, über deren Klinkerfarbe und Standfestigkeit sich Betrachter und Bauherren im Angesichts der Wand nicht einigen konnten.

Entsprechend geraten die Kommentare der Zaungäste. Eine Seite sagt, es seien “Hürden” beschlossen, ARD und ZDF “im Netz Grenzen” gesetzt worden. Die andere Seite befindet, die Länder “erlauben eine Online-Offensive” und stellten den öffentlich-rechtlichen Sendern einen “Freibrief für das Internet” aus. Interpretationslyrik anstelle von Klarheit. Nach Dresden steht nur fest, dass nach der Entscheidung vor der Entscheidung ist.

“Die Messe ist noch nicht gelesen”, sagt Jürgen Doetz, der Präsident des Privatsenderverbands VPRT. Im Namen von RTL, Sat1 & Co. will er ARD und ZDF mehr verbieten lassen. Er benötige wenig Fantasie, um sich vorzustellen, dass die Öffentlich-Rechtlichen nicht allzu zurückhaltend mit den neuen Vorschriften umgehen werden. Eigentlich bräuchte er gar keine Fantasie. Der ARD-Vorsitzende Fritz Raff hatte schon im Juni gefragt, “was wir unternehmen müssen, um die Einstellzeiten im Netz zu verlängern.”

Irgendetwas geht also immer – auch künftig. Möglich machen soll es der Drei-Stufen-Test. ARD- und ZDF-eigene Aufsichtsgremien werden – nach Anhörung von internen und externen Sachverständigen – entscheiden. Alles, was vom öffentlich-rechtlichen Versorgungsauftrag gedeckt ist, zum publizistischen Wettbewerb beiträgt (also Internetseiten von Zeitungen und Privatsendern nicht bloß Besucher raubt, sondern diese Angebote ergänzt) und nicht allzu viel kostet, soll im Netz bleiben dürfen. – Wenn es nicht einem Online-Archiv einer Zeitung, die übrigens auch Videos hat, gleicht.

Bei allem, was online bleiben darf, werden sich die Verantwortlichen von ARD und ZDF freuen. Verleger und Privatsendervertreter werden hingegen protestieren – vielleicht sogar vor Gericht, weil sie das Prüfergebnis aus dem Drei-Stufen-Test anzweifeln. Der neue Rundfunkstaatsvertrag sieht also ein Verfahren vor, dessen Resultate nie ein hohes Maß an Akzeptanz finden werden. Und er stellt eine Sieben-Tage-Frist auf, ohne Gebührenzahlern, die mittlerweile auch für ihren PC zahlen müssen, zu erklären, was am achten Tag anders ist und warum eine Sendung dann nicht mehr online sein darf.

Mit dem Rundfunkänderungstaatsvertrag hat die Politik keine wegweisende Entscheidung getroffen. Sie hat unter dem Druck von zwei Lobbys kapituliert. ARD und ZDF befürchten, vor allem bei jungen Nutzern zu Medien zweiter Klasse zu werden, wenn sie nicht online klotzen dürfen und sind dabei mit Kontakt-Plattformen, Kinderspielseiten und Bilderportalen übers Ziel geschossen. Verlage und Privatsender wollten den mit Gebühren alimentierten Wettbewerbern vors Schienbein treten und haben das Schreckgespenst einer öffentlich-rechtlichen Presse auftauchen sehen. Dazwischen standen Politiker, die mal Journalisten als lästige Wegelagerer ansehen und mal über das “Scheiß-Privatfernsehen” schimpfen. Diese Politiker haben ein Gesetz geschaffen, dass weniger regelt, als dass es Anlass gibt zu neuem Streit.

Alle 16 Landtage haben nun die Chance, den zwölften Rundfunkänderungsstaatsvertrag aufzuhalten und die Ratifizierung zu verweigern. Sonst müssen sie schon bald über Änderung Nummer 13 entscheiden.

Dieser Beitrag ist zuerst im Blog Vanity Care erschienen.

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