Kurzer, Verteiler

Message übers Netzwerk statt E-Mail, Twitter statt Blog-Post – werden die langen Texte zur raren Spezies?

Nach dem Essen gibt es einen Kurzen. Diese zwei Zentiliter klarer geistreicher Flüssigkeit sind auch als Verteiler bekannt. Und irgendwie wird an diesem kulinarischen Exemplar schon deutlich, dass Kurzsein und Verteilen eng miteinander verbunden sind. Der kurze würzige Schluck sollen helfen, deftigen Braten, fettige Röstkartoffeln, sahnereiche Vorsuppe und mächtigen Dessert gut zu vermengen, auf das es eine gute Verdauung gebe. Was kurz ist, eignet sich offenbar vorzüglich zum Verteilen.

Vielleicht ist das die Ursache, warum Texte, die im Netz und anderswo verbreitet werden, immer kürzer werden. Nicht alle, die Seite drei der Süddeutschen Zeitung ist immer noch eine Seite, andernfalls würde sie zur Seite 3/2 (drei Halbe) degenerieren, was ja nur 1,5 ist. Aber vieles wird kürzer. So kurz, dass kaum noch von einem Text gesprochen werden kann. Es bleiben nur Sätze, Fragmente, Wörter.

Sogar das E-Mail-Schreiben kommt angeblich aus der Mode. Bei den unter 20-Jährigen hat aktuellen Untersuchungen zufolge erstmal die Häufigkeit des Mailens abgenommen. Die Teens schreiben sich aber dennoch. Bloß, sie nutzen jetzt Messaging-Fenster bei StudiVZ, Facebook oder anderen Communities. Schwer vorzustellen, was daran komfortabel sein soll. Möglicherweise ist die über das Portal versendete Kurznachrichten einige Sekunden-Bruchstücke eher beim Empfänger. Doch mehrere Sätze zu schreiben, erscheint angesichts des kleinen Eingabefelds beschwerlich. Doch es werden ohnehin nur Mini-Nachrichten geschickt. Da sind wir wieder bei den Kurzen.

Auch die deutsche Blogosphäre soll ihren nie merklich erreichten Höhepunkt schon überschritten haben. Weniger Posts, weniger Verlinkungen untereinander, weniger Leser – Schuld daran sollen wieder die Kurzen sein. Nachrichten, die oft nur aus einzelnen Wörter bestehen, wenn es lang wird, dann noch ein kompletter Satz. Twittern is the new bloggen, jubeln Trend-Beschwörer. Nur das Tiefsinnige, das Hintergründige, das stilistisch Schöne bleiben dabei auf der Strecke.

Es gab immer Kulturpessimisten, die argwöhnten, in unserer Gesellschaft ginge Sprache mit einer besonderen Form des Knappheitsproblems um. Immer weniger Text könne von Lesern schnell aufgenommen, durchdacht, reflektiert und behalten werden. Zeitungen und Magazine reagierten mit größeren Druckbuchstaben, großformatigeren Bildern, mehr Weißraum und mehr Info-Häppchen. Kritiker dieses Trends konnten im Web Besänftigung für ihre linguistischen Untergangsszenarien finden. Ganz schön viel Text hier, so ließen sich Webseiten beschreiben. Doch auch das war einmal.

Nun wird gezwitschert statt gepostet, eine Message rübergeschickt statt eine E-Mail abgesandt. Und so mancher Online-Redakteur schreibt schon seit langem keine Reportagen mehr (wenn er es denn jemals getan hat). Stattdessen haut er zwischen zwei Nachrichten noch eine SMS zum Top-Thema heraus – die Welt in 160 Zeichen erklärt. Ich habe SMS noch nie gemocht, sondern stets lieber angerufen. Ich habe keinen Twitter-Account, sondern gerade dieses Blog-Posting geschrieben. Und: Ich hoffe, dass die Reportagen in der Süddeutschen, bei GEO, im Spiegel oder anderswo nie durch drei SMS abgelöst werden. Es ist auch mal nötig, einen anderen Verteiler einzusetzen, nämlich Informationen, Hintergründe und Anekdoten in einer Textfläche zu verteilen, statt alles in einen Kurzen zu pressen.

Dieser Beitrag ist zuerst im Blog Vanity Care erschienen.

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